TI-Streit: Scheitert die Digitalisierung der Praxen?


Im „Haifischbecken Gesundheitswesen“ schlagen die Wellen hoch. 9 KV-Chefs werfen der KBV vor, mit ihrer Digitalisierungsstrategie gescheitert zu sein. Auch die Allianz Deutscher Ärzteverbände kritisiert das TI-Debakel und das Vorgehen der KBV. Ein „gut gemeinter Ansatz droht, zu einer Zumutung für Ärzte und Patienten zu werden“, schreibt der Zusammenschluss der großen fachübergreifenden Verbände (darunter auch der Virchowbund). Worum geht es bei dieser Diskussion und wie könnte eine Lösung im TI-Streit aussehen?


Wir Ärzte wollen die Digitalisierung. Wo wäre die Medizin, wenn Ärztinnen und Ärzte nicht seit Jahrhunderten technische Neuerungen entwickeln und vorantreiben würden?

Jetzt kommt das Aber: Es muss auch einen Mehrwert geben. Und zwar einen, der direkt im Praxisalltag spürbar ist. Gerade diesen Mehrwert vermissen wir Ärzte aktuell bei der Telematikinfrastruktur, denn:

 

  1. Die TI startete mit dem Feature „Versichertenstammdatenabgleich“, das einige wenige administrative Datensätze der Versicherten abgleicht. Diese Funktion ist nur für die Krankenkassen von Interesse. Wir Ärzte machen hier den Job der Kassen.
     
  2. Die eAU ist zwar an sich sinnvoll – in der Praxis führt sie aber erst einmal zu deutlichem Mehraufwand. Denn die Krankschreibung muss auch weiterhin auf Papier ausgestellt werden. Von der elektronischen Variante profitieren faktisch nur Kassen und Arbeitgeber. Für uns Ärzte verdoppelt sich also der Aufwand. Dabei soll Digitalisierung doch Prozesse vereinfachen und beschleunigen!
    Außerdem: Wer – aus welchen Gründen auch immer – nicht an diesem Vorgang teilnimmt, ist quasi aus der vertragsärztlichen Versorgung ausgeschlossen.
     
  3. Das eRezept krankt an ähnlicher Stelle. Viele Patienten haben schlicht nicht die technischen Möglichkeiten oder das nötige Anwender-Wissen, um mit einem eRezept umgehen zu können. Das Papierrezept bleibt also notwendig. Ein weiteres Mal werden Doppelstrukturen geschaffen.
     
  4. Die TI ist weder für besonders reibungslosen Anschluss noch für wartungsarmen Betrieb bekannt. Die jüngste Störung zog sich über Wochen hin. Heißt im Klartext: Ein großer Teil der angeschlossenen Ärzte muss viel Zeit investieren um das System zu installieren bzw. am Laufen zu halten. Dieser Aufwand und die Kosten für externe Techniker sind mit den Pauschalen nicht ausreichend gegenfinanziert. 
     
  5. Die ePA schafft für Patienten mehr Transparenz. Das ist gut und wichtig. Sie ersetzt aber keine dringend notwendige eFallakte. Nur eine eFallakte kann eine lückenlose Dokumentation sicherstellen, auf die alle beteiligten Ärzte sich auch verlassen können. Eine ePA, in der Patienten Daten verändern, ausblenden und löschen können, erfüllt diesen Zweck nicht. Der Arzt soll aber dazu beitragen, sie zu füllen, obwohl das keinen primären Nutzen für das vertragsärztliche Behandlungsgeschehen bringt. Kein Nutzen aber viel Aufwand beim Pflegen – dagegen wehren wir Ärzte uns. Die ePA zu Befüllen ist Aufgabe der Kassen.
     
  6. Wir Ärzte sind verpflichtet, die Gesundheitsdaten unserer Patienten mit äußerster Sorgfalt zu schützen. Gesundheitsdaten zählen zu den sensibelsten Daten überhaupt und brauchen noch stärkeren Schutz als z. B. Bankdaten. Zwei Jahre nach Inbetriebnahme der TI liegt noch keine Datenschutzfolgeabschätzung der Gematik vor. Gleichzeitig fürchten viele Ärzte, die neue IT-Sicherheitsrichtlinie der KBV könnte zu massiven Mehrkosten für die Praxen führen. 
     
  7. Die Hotline 116 117 des ärztlichen Notdienstes sollte ausgebaut werden zu einer zentralen Plattform für Terminvergabe und Patientensteuerung. Dann hätten die Vertragsärzte der immer größer werdenden Macht der Tech-Giganten wie Google und Amazon und den Gewinninteressen von Bertelsmann, Doctolib, Jameda und Co. endlich etwas Wirkungsvolles entgegenzusetzen. Doch einige KVen verschlafen diese historische Chance zur Weiterentwicklung der 116 117 zu einer nicht-kommerziellen Terminplattform in der Hand der Vertragsärzte gerade.

Mehr dazu haben wir in unseren 7 Thesen zur Digitalisierung im Gesundheitswesen aufgeschrieben.


Auf der einen Seite also eine technische Dauerbaustelle mit vielen Problemen für die Anwender, auf der anderen Seite harte Fristen mit noch härteren Strafandrohungen. Erst wurde denen, die noch keinen TI-Konnektor installiert haben, das Honorar um 1 % gekürzt, später um 2,5 % und in Kürze könnten sie gänzlich von der vertragsärztlichen Versorgung ausgeschlossen werden. So eine Vorgehensweise demotiviert und ruft Gegenreaktionen hervor.

Es wäre sinnvoll und wünschenswert gewesen, wenn Politik und Selbstverwaltung gerade in Corona-Zeiten angesichts der Mehrbelastungen der Praxen das strikte TI-Zeit- und Sanktions-Regime gelockert hätten.

Wir wünschen uns mehr digitale Strukturen und Anwendungen auf der Höhe der Zeit, statt veralteter Technik. Wir wünschen uns den größtmöglichen Schutz der Patientendaten statt zentraler Speicherung. Wir wünschen uns echte Erleichterung im Praxisalltag statt Störungen, Aufwand und Ärger. Wir wünschen uns finanzielle Anreize statt Strafandrohungen.

Diese Kritik zu formulieren und zu kanalisieren ist Aufgabe der freien Verbände. Einmal mehr zeigt sich: In solch schwierigen Situationen können sie die Ärzteschaft besser vertreten als öffentliche Körperschaften, die gezwungen sind, Gesetze und Verordnungen umzusetzen und damit immer zwischen zwei Stühlen sitzen. Je stärker die freien Verbände im Hintergrund, desto eher haben auch die KVen und die KBV eine Chance, die Positionen der Ärzteschaft realpolitisch umzusetzen.

Daher: Stärken Sie uns, liebe Kollegen! Sie möchten sich aktiver einbringen? Schreiben Sie uns!

 

Der Verband der niedergelassenen Ärzte (Virchowbund) kämpft dafür, die Budgetierung zu beenden, die ärztliche Selbstverwaltung zu stärken und die Freiberuflichkeit zu erhalten. Erfahren Sie hier, was berufspolitische Arbeit für Praxis-Ärzte verändert und warum es sich für Sie lohnt.

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