
Sektorengrenzen blockieren Innovation
Praxisberatung für Ärztinnen und Ärzte ist eine ernste Sache, immer abwechslungsreich – oft aber auch blanker Wahnsinn. So wie in diesem Fall aus unserer Praxisberatung:

Ein Arzt will eine Operation ambulantisieren. Ein innovatives Angebot, möglich und sinnvoll. Doch es scheitert – Überraschung! – an bürokratischen Vorgaben.
„Jeder macht Seins“: Das beschreibt unser Gesundheitssystem ziemlich gut. Eine besondere Rolle spielen hier Sektoren und ihre Grenzen:
Der ambulante Bereich arbeitet ambulant. Der stationäre Bereich arbeitet stationär. Jeder rechnet nach seinen eigenen Regeln ab – und die sind normalerweise inkompatibel.
Nun kommt ein junger, motivierter Arzt daher und traut sich was: Er will Operationen, die es hierzulande nur stationär gibt, ambulant anbieten. Selbstverständlich in geeigneten Räumen und mit einem professionellen Team, für geeignete und vorbereitete Patientinnen und Patienten. Seine fachliche Expertise und Erfahrung sind unbestritten, hat er doch ebendiese Operation jahrelang im Krankenhaus durchgeführt – und dabei gemerkt, dass die Leistung Potenzial hat, „nach außen“ verlagert zu werden.
Gründliche Vorbereitung, OK der KV
Er steigt also in eine BAG ein, kümmert sich um räumlich-technische Ausstattung, geschultes Personal und – tada! – bekommt die Genehmigung der KV.
Der erste Patient ist aufgeklärt, vorbereitet und für die Tage post-OP versorgt.
Der Arzt ordert die für die Operation notwendigen Materialien und stolpert dabei über die Höhe der Kosten, einen vierstelligen Betrag. Es ist viel Geld, aber zugegeben: Seine Materialien sind keine Standardware, die in jeder Praxis vorrätig und länger haltbar ist.
Nun macht er sich noch rasch vertraut mit den Abrechnungsregeln, dem passenden Kapitel im EBM, Kapitel 31 und dem Anhang 2. All das ist nicht ganz selbsterklärend, aber „wird schon“.
So, nun kann es losgehen!
Ein Rückschlag
Ach nein, noch nicht. Denn: Im EBM finden sich nur allgemeine Bestimmungen und Kostenpauschalen. Er beantwortet nicht, über wen diese Materialkosten eigentlich abgerechnet werden. Über die KV? Direkt bei der Krankenkasse? Gewiss nicht beim Patienten selbst?
Also, OP verschieben und erstmal weiter recherchieren.
Wir haben den Arzt beraten und gebrieft für Verhandlungen mit der KV. Und tatsächlich deklariert die KV die Kosten für die geplante ambulante statt stationäre Operation nun als abrechnungsfähig und erstattungsfähig.
Systemkenner atmen jetzt tief durch, denn sie wissen: Dahin ist und war es ein weiter, sehr steiniger Weg voller Bürokratie, und dieser Arzt ist ihn erfolgreich gegangen. Wow und Gratulation!
Also, jetzt kann es wirklich losgehen!
Noch ein Rückschlag
Aber herrje! Ein weiterer Haken: Die Anästhesie. Diese bietet der Träger des Operationsaals an. Dem Träger fehlt aber leider die Abrechnungsgenehmigung für eine ambulante Anästhesie bei diesem Eingriff.
Kleine Lehrstunde: Wir bewegen uns hier außerhalb des Kataloges nach § 115b SGB V. In Deutschland ist ja alles geregelt. Und katalogisiert. Ihr Anliegen steht nicht im Katalog? Dann geht‘s auch nicht.
Vor dieser Hürde steht der Arzt aktuell. Sie ist noch höher als die der Materialkosten.
Und jetzt?
Ich berate den Arzt weiter.
Und wieder einmal muss ich feststellen: Bürokratie verhindert. Sie verhindert die Verlagerung von stationär nach ambulant. Sie verhindert die Kostensenkung in einem zu teuren System. Sie verhindert auch, dass Ärztinnen und Ärzte innovative Angebote machen.
Bürokratie blockiert.
Bürokratie, was ist Dein Zweck? Werden hier Grenzen um ihrer selbst willen aufrechterhalten?
Sie haben ebenfalls Praxiswahnsinn erlebt?
Erzählen Sie uns davon – in den Kommentaren oder per E-Mail.
Die hier dargestellten Fälle sind aus der persönlichen Praxisberatung des Virchowbundes, gesammelt und aufgeschrieben von Margaret Plückhahn, unserer Praxis- und Niederlassungsberaterin.
„In meiner täglichen Beratungspraxis begegnen mir zuweilen Fälle, die auch mich nach über 30 Jahren Tätigkeit im Gesundheitswesen nur den Kopf schütteln lassen. Fälle, die die teils tragische Absurdität unseres Gesundheitssystems offenlegen. Fälle, die zum verzweifelten Seufzen, Weinen oder Lachen bringen – und die es verdient haben, dass sie öffentlich gemacht werden.“
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