
Patientensteuerung 2030: Versorgung digital neu denken
Was bedeutet ein Primärarztsystem für Patienten in Deutschland? Wie werden Hausärzte entlastet und schnellere Termine beim Facharzt möglich? Auf der Bundeshauptversammlung 2025 stellte der Virchowbund seine Vision für die Patientensteuerung der Zukunft.
Der 70-jährige Patient Herbert H. sitzt auf dem Sofa und hat Atemnot. Was heute noch oft einen unnötigen Notfalleinsatz auslöst, könnte im Jahr 2030 mithilfe KI-gestützter, strukturierter medizinischer Ersteinschätzung so aussehen: Herbert H. nimmt sein Handy zur Hand und schildert der Medizin-KI seine Symptome. Die künstliche Intelligenz berücksichtigt, dass der Patient Diabetiker ist, an Herzinsuffizienz und grünem Star leidet sowie kürzlich operiert (Hüft-TEP) wurde.
Dann empfiehlt die KI „Gehen Sie zum Hausarzt“ und leitet eine Terminbuchung ein. In der Patientenakte wird hinterlegt, dass künftig der Hausarzt die Koordinierung des Patienten übernimmt, Herbert K. aber für 12 Monate freien Zugang zum Augenarzt und Orthopäden hat.
Mit 5 solchen Fallbeispielen machte der Virchowbund-Bundesvorsitzende Dr. Dirk Heinrich bei der Bundeshauptversammlung 2025 klar, welche Vision der Verband in Sachen Patientensteuerung hat: Sie soll nötige Arztbesuche schneller ermöglichen, unnötige Arztbesuche vermeiden, Ärzte, MFA, Rettungsdienst und Klinikpersonal entlasten und den Patienten schnelle Hilfe und Orientierung geben.
Und die Patientensteuerung der Zukunft soll nach dem Prinzip „digital vor ambulant vor stationär“ arbeiten. Denn schon jetzt zeigen Daten der Kassenärztlichen Vereinigungen, dass beispielsweise mit Telemedizin im Not- und Bereitschaftsdienst rund 80 Prozent aller Patienten geholfen werden kann und kein Rettungsdienst-Einsatz nötig ist.
Wie kann Patientensteuerung in Zukunft aussehen?
Der durchdachte Einsatz Künstlicher Intelligenz könnte Dinge möglich machen, die vor kurzem noch niemand zu hoffen gewagt hatte. Für Patienten hieße das, dass durch Zugriff auf die Daten aus der ePA, aus Fitnesstrackern und anderen Sensoren ein umfassendes Bild zur Gesundheitshistorie vorhanden ist, das die medizinische Ersteinschätzung verbessert und die Weiterbehandlung unterstützt.
Statt Arztsuche und Telefonwarteschleife oder E-Mails ruft der Patient eine App oder einen Agenten zur Ersteinschätzung auf dem Smartphone auf. Stellt dieser Abklärungs- oder Behandlungsbedarf fest, ist der nächste Schritt die Terminbuchung. Auch das erledigt die App, und schlägt ggfs. auch passende Arztpraxen mit freien Terminen in der Nähe vor. Oder verständigt im Notfall die Rettung, z. B. bei Verdacht auf Herzinfarkt. Dann werden alle relevanten Daten an den Weiterbehandler, z. B. eine Arztpraxis, übertragen.
Kurz vor dem Besuch in der Praxis checkt der Patient online ein, ähnlich wie vor dem Flug. Angekommen in der Arztpraxis, ist die Wartezeit dementsprechend kürzer. Alle wichtigen Daten für die Anamnese sowie die Abrechnung liegen schließlich bereits vor.
Und auch in der Arztpraxis können digitale Helfer mit und ohne künstliche Intelligenz bei der Ersteinschätzung, Anamnese, Diagnoseunterstützung, aber auch bei Dokumentation, Arztbriefen und Ähnlichem für Entlastung sorgen. „Das ist alles schon da, wir müssen es nur anwenden“, wirbt Dr. Heinrich für mehr Mut und Offenheit. „Lassen Sie uns Digital neu denken, statt Analoges zu digitalisieren. Wir müssen disruptiv denken und ambitioniert handeln“, bringt es der Virchowbund-Vorsitzende auf den Punkt.
Koordinierung durch Hausarzt oder Facharzt
Patientensteuerung weiterhin analog zu denken, führt unweigerlich zu einem Flaschenhals namens Hausarzt. Das Zentralinstitut für die Kassenärztliche Versorgung (Zi Berlin) hat ausgerechnet, dass bis zu 2.000 zusätzliche Behandlungsfälle pro Hausarzt und Jahr drohen könnten. Daher ist es wichtig, unnötige Hausarztbesuche wo immer möglich zu vermeiden.
Dazu gehört auch, jene Fälle herauszufiltern, bei denen ein Facharzt der sinnvollere erste Ansprechpartner ist, ohne dass dies durch einen Hausarzt verifiziert werden muss. Bei chronischen Erkrankungen kann es auch sinnvoll sein, dem jeweiligen Facharzt die Koordination zu übertragen. Deshalb plädiert der Virchowbund für ein Koordinationsarztmodell statt eines Primärarztsystems.
Die Patienten müssen sich verpflichtend bei einem koordinierenden Arzt einschreiben. Das kann eine Hausärztin oder ein Facharzt sein. Patienten, die keine Koordinierung wünschen, zahlen höhere Versicherungstarife. Ergänzend kommen Sanktionen hinzu, wenn Patienten sich nicht an der Schonung von Ressourcen beteiligen wollen, z. B. „no show“-Gebühren.
Die „Ressource Hausarzt“ wirkt am effektivsten dort, wo Menschen kontinuierlich über viele Jahre hinweg betreut werden, gerade bei multimorbiden Patienten. Mehr Patientensteuerung darf sich also nicht darin erschöpfen, dass Hausärztinnen und Hausärzte sowie deren MFA in einem analogen System die Triage übernehmen und hauptsächlich Überweisungen ausstellen.
Was bedeutet Patientensteuerung für MFA?
Wenn die Ersteinschätzung vor und beim Praxisbesuch immer stärker an Algorithmen und künstliche Intelligenz ausgelagert wird, wird sich das Berufsbild der MFA verändern. Das sieht auch Patricia Ley, Vizepräsidentin des Berufsverbandes der Medizinischen Fachangestellten, so.
Sie hat die Hoffnung, dass der direkte Kontakt zwischen MFA und Patient oder Arzt und Patient, dadurch wieder wichtiger wird. Denn gerade in Situationen der 1:1-Betreuung ergeben sich aus dem Gespräch oft medizinisch relevante Hinweise. Zum Beispiel, wenn während einer Schutzimpfung eine Patientin von ihrer momentanen Belastung im Job und von Schlafstörungen berichtet.
Kann Patientensteuerung Geld sparen und Beiträge senken?
Werden Patienten besser durch das Gesundheitswesen gesteuert, vermeidet das unnötige Arztbesuche und Untersuchungen und spart dadurch Geld. Andererseits ist die Koordination auch aufwändiger. Dieser Aufwand muss vergütet werden.
Die Budgetierung der Fachärzte aufrecht zu erhalten, macht unter den Bedingungen einer Patientensteuerung keinen Sinn. Wenn die Facharztpraxen von jenen Patienten entlastet werden, die sie fälschlich auf eigene Faust aufsuchen, aber die Gesamtsumme der Vergütung gleichbleibt, ist das „de facto eine Entbudgetierung, die nicht einen Euro mehr kostet“, konstatiert Dr. Heinrich.
Auch wenn durch die koordinierte Inanspruchnahme die GKV-Beiträge wahrscheinlich nicht sinken, sollten Patienten aber einen deutlichen Mehrwert spüren: dass ihnen schneller und zielgerichteter geholfen wird als bislang.
„Patientensteuerung muss geil sein. Die Leute sollen so ein System haben wollen, so wie sie das neue iPhone haben wollen. Sie müssen einen direkten Vorteil für sich sehen“, forderte der Virchowbund-Bundesvorsitzende am Ende seines Vortrages.
Dann kann so eine umfassende Reform auch den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken. Die Zukunft des Gesundheitswesens und die Zukunft der Demokratie in Deutschland sind eng miteinander verknüpft.
Den Impulsvortrag mit Fallbeispielen sowie die anschließende Diskussion mit Gesundheitspolitikern und Berufsvertretern finden Sie auf unserem Youtube-Kanal. Die Folien zum Vortrag sowie weitere Hintergrundinformationen erhalten Sie unter Bundeshauptversammlung 2025.
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