Das Gesundheitswesen steht vor dem Kollaps

Neupatientenregelung, Bürokratie, Digitalisierung: Es brodelt in der Ärzteschaft und das zu Recht. Ein Traumberuf, den aktuell nur jeder zehnte Studienplatzbewerber studieren darf, wacht in der Realität des Gesundheitswesens 2022 auf.

 

Dieser Text von Dr. Frauke Wulf-Homilius und Dr. Thomas Carl Stiller erschien zuerst im Ärzteblatt Niedersachsen (Ausgabe 10/2022).

Nach einer aktuellen Umfrage hadert jede vierte Ärztin und jeder vierte Arzt im Krankenhaus mit seinem Beruf und würde lieber etwas anderes machen. Bei Ärztemangel ein alarmierendes Signal. In der Niederlassung sind die Ärztinnen und Ärzte auch nicht zufriedener. Es liegt nicht an der Arbeit, für die sie ausgebildet sind, sondern an der jahrelangen Behandlung durch ein Gesundheitssystem, in dem sie die Heilkunde ausüben:

  • Ein stetig wachsender Bürokratiedschungel mit stets neuen Vorschriften und Formularen, die die letzten Zeitreserven des Tages rauben.
  • Eine dilettantische „Digitalisierung“ schafft Fehlermeldungen, Systemstörungen der Praxis EDV und abstürzende Kartenlesegeräte. Diese Probleme sind das tägliche Los in übervollen Praxen. Unausgereifte Digitalisierungsprojekte blockieren die Arbeit und frustrieren die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.
  • Die Telematik-Infrastruktur hilft bislang nur den Krankenkassen Geld zu sparen, indem sie Verwaltungsaufgaben den Ärztinnen und Ärzten aufbürdet. Diese Zeit fehlt für die ärztliche Behandlung.

In der gesamten Pandemie stand die Ärzteschaft den Patienten treu zur Seite. Trotz fehlender Impfstoffe und umständlicher Logistik haben Praxen ihr Soll übererfüllt. Dass nichtärztliche Berufsgruppen dann noch Impfaufträge erhielten, ist ein Affront.

Jüngst verhandelten Apothekerverbände Zusatzhonorare, indem sie ohne medizinische Therapieerfahrung ärztliche Medikamentenverordnungen der Patienten „beratend“ kontrollieren können. Krankenhäuser werden auf immer weniger Standorte konzentriert. Hier trifft Personalmangel auf immer mehr Patienten. Lange Wege, ein ausgezehrtes Rettungswesen und fehlende Kapazitäten sind die tägliche Wirklichkeit. Dazwischen die Ärzteschaft, ohne deren Arbeit in den Krankenhäusern und Praxen keine Umsätze erzielt werden können, die dann die vielen weiteren Arbeitsplätze im Gesundheitswesen erhalten. Millionen unbezahlte Überstunden der Ärztinnen und Ärzte in den Krankenhäusern und Praxen lassen auch die motiviertesten Ärztinnen und Ärzte verzweifeln.

Statt auf die vielen konstruktiven Anregungen aus der Ärzteschaft zu hören, wird seitens der Politik quer durch alle Parteien viel geredet, viel versprochen und fast nichts gehalten. Ohne profunde Sachkenntnis wird im Gesundheitswesen ein Gesetz nach dem anderen verabschiedet – ohne klare Strategie. Hauptsache billiger.

Dr. Frauke Wulf-Homilius, Vorsitzende Landesgruppe Niedersachsen / Bremen (© Virchowbund / Lopata)

Die Politik ist mit den Fehlentscheidungen der vergangenen Jahre zu weit gegangen. Das Gesundheitswesen ist schlicht in allen Bereichen massiv unterfinanziert.

Dr. Frauke Homilius
Vorsitzende der Landesgruppe Niedersachsen

Wir Ärztinnen und Ärzte fordern für uns weiterhin die ausgehandelte Bezahlung für „Neupatienten“ und für die offenen Sprechstunden. Die für Ärztinnen und Ärzte sowie die Patienten erfolgreiche „Neupatientenregelung“ zur Schaffung schneller Termine soll im neuesten Gesetzentwurf des Bundeministeriums für Gesundheit gestrichen werden, um Gelder einzusparen. Dies ist sehr nachteilig für die Patienten, die dann zukünftig wieder länger auf die Termine warten müssen.

In Deutschland folgt in jeder Behörde, im Handwerk, im Handel und in der Industrie der Leistung stets auch das Geld. Warum die von der Bundesärztekammer modernisierte Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ) die Jahrzehnte alte Version nicht ersetzen darf, bleibt das Geheimnis der politisch Verantwortlichen.

Diese Missstände rauben Ärztinnen und Ärzten Zeit und Muße für ihre eigentliche Arbeit und schaden auch ihrer Gesundheit. Die Politik ist mit den Fehlentscheidungen der vergangenen Jahre zu weit gegangen. Das Gesundheitswesen erodiert im ambulanten und stationären Sektor und ist mit Sicherheit nicht durch digitale Angebote zu ersetzen. Das Gesundheitswesen ist schlicht in allen Bereichen massiv unterfinanziert. Wir verabschieden uns gerade von der hohen Versorgungsqualität im ambulanten und stationären Sektor.

Ärztinnen und Ärzte haben vor dieser Entwicklung in den vergangenen Jahren gewarnt und Alternativen entwickelt. Sie haben in der Regel mehr gegeben als das System ihnen zurückbezahlte. Vom Hippokratischen Eid und dem Genfer Gelöbnis allein können aber weder Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Praxen noch weitere Praxiskosten bezahlt werden. Ethik, Motivation und Empathie sind bei den Ärztinnen und Ärzten da, die gerechte Honorierung aber wird ihnen verwehrt, trotz massiv steigender Kosten und Inflation.

Piloten streiken und Flugzeuge bleiben am Boden. Das wirkt. Ärztinnen und Ärzte dürfen nicht streiken, sie werden nur immer frustrierter und demotivierter. Die „Motoren“ des Gesundheitswesens, die jeden vierten Arbeitsplatz in diesem Land stellen, laufen nicht mehr rund.

Wenn sich politisch auf allen Ebenen nichts tut in Sachen Entbürokratisierung, Honorargerechtigkeit und einer mit den Ärztinnen und Ärzten zusammen entwickelten Digitalisierung, wird das Land in einer schmerzhaften Realität aufwachen. Denn dann bricht die Versorgung der Bevölkerung zusammen, weil die Schultern der Ärzteschaft das politisch verursachte Missmanagement in Krankenhäusern und Praxen nicht mehr tragen können und wollen. Die Kolleginnen und Kollegen von morgen fehlen schon heute.

Es wäre gut, auf die Ärzteschaft zu hören, wie sie ihren Beruf am besten ausüben kann zum Wohle des Gesundheitswesens in diesem Land. Dies passiert aktuell zu selten und fördert den Zerfall des Systems auf allen Ebenen. Dieser Prozess kann nur gestoppt werden, wenn der „ärztliche Rat“ im deutschen Gesundheitswesen von der Politik auch befolgt wird. Es ist höchste Zeit zu handeln!

Dr. Thomas Carl Stiller, Facharzt für Allgemeinmedizin, Stellv. Landesvorsitzender Hartmannbund Niedersachsen

Dr. Frauke Homilius, Fachärztin für Augenheilkunde, Vorsitzende der Landesgruppe Niedersachsen im Virchowbund

 

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