Vorsicht, ansteckend: die Formularitis maxima
Praxisberatung für Ärztinnen und Ärzte ist eine ernste Sache, immer abwechslungsreich – oft aber auch blanker Wahnsinn. So wie in diesem Fall aus unserer Praxisberatung:

Ständig muss ein Arzt irgendjemandem irgendetwas bescheinigen. Bis er verzweifelt. Über den deutschen Nachweiswahnsinn.
Diesmal möchte ich mich dem alltäglichen Wahnsinn in der Praxis widmen. Und zwar, weil dieser Wahnsinn wächst. Weil er von mehr und mehr Anspruchshaltung getrieben ist. Weil Anforderungen und Abläufe nicht bis zum Ende, manchmal nicht einmal vom Anfang her durchdacht sind.
Und weil Ärztinnen und Ärzte diesen Wahnsinn täglich abfangen und ausbaden müssen.
Es geht um die grassierende Bescheinigungswut. Die offenbar pandemisch ist und hochansteckend.
Krankenkassen, Ämter und Behörden, Anbieter von Gesundheitsleistungen, tatsächliche und potenzielle Arbeitgeber, Kitas, Schulen und natürlich Patienten (denen sei es oftmals verziehen) – sie alle fordern von Praxisärztinnen und -ärzten stapelweise Nachweise. Ausgefüllte, angekreuzte und gestempelte Atteste und Bescheinigungen in jeder denkbaren und undenkbaren Form, mit zum Teil hanebüchenem Inhalt und mit beeindruckender Selbstverständlichkeit.
Das Paradestück, das mich das Thema hier ausrollen lässt, bringt einen jungen, neu niedergelassenen Hausarzt fast zum Verzweifeln. Es liegt nicht nur an den verlangten Papieren:
Die Forderungen kommen mit zunehmend rauen Umgangsformen und einer Haltung, die nicht mehr an Wertschätzung und respektvolles Miteinander erinnert.Sie raubt ihm die Freude an seiner Arbeit.
„Das steht mir zu!“
„Ich brauche hier noch einen Stempel“, „Das steht mir zu!“, „Sie müssen das“ – mit solchen Aussagen werden die Anliegen nach einem „Wisch“ oft vorgebracht.
Abgesehen von dem fragwürdigen Ton: Stimmt das eigentlich?
In der Tat werden mir diese zwei Fragen häufig gestellt, vor allem von frisch Niedergelassenen: „Steht dem Patienten das zu?“ und „Muss ich das wirklich?“.
Oft vergessen wird dabei: „Wenn ja, was bekomme ich dafür?“, „Wie rechne ich das ab?“. Diese beiden Fragen beantworte ich übrigens auch dann, wenn sie nicht gestellt werden. Das gehört für mich zur Praxisberatung dazu.
Sie sehen, heute mache ich auch Eigenwerbung. Weil es mich traurig und wütend macht, dass das System so aus dem Ruder läuft. Ich selbst habe noch ein solidarisch finanziertes Gesundheitswesen kennengelernt, dessen Nutzen und Grenzen definiert waren. Der Wildwuchs war überschaubar, die Finanzierung zwar regelmäßig fraglich, aber nicht ernsthaft in Gefahr. Es ging stets miteinander, nicht gegeneinander. Die Krankenkassen haben Patienten nicht gegen Ärzte ausgespielt, und die KV war ein Partner, eine helfende Hand, die Orientierung bot. Ärztin und Arzt hatten in ihrer Praxis Hausrecht – Stichwort Freiberuflichkeit.
Aber ich schweife ab. Zurück zu dem jungen Arzt, den ich bei der Niederlassung bis hin zu den ersten Abrechnungen begleiten durfte:
Er meldet sich bei mir, weil ihm die Hutschnur platzt. Wieder einmal soll er eine Bescheinigung erstellen. Wieder einmal geht es darum, dass ein Patient gesund und damit geeignet ist, den Beruf des Erziehers auszuüben.
Und zwar mit einem unscheinbaren Formular wie diesem:
Eine Ursache der Formularitis
Wer in Deutschland einen Beruf ausüben will, der reglementiert ist, muss spezielle Voraussetzungen erfüllen. Die Bundesagentur für Arbeit schreibt: „Die Berufsausübung in bestimmten Berufen in Deutschland ist an eine Anerkennung der beruflichen Qualifikation gebunden. (…) Reglementiert sind beispielsweise Medizinberufe, Rechtsberufe, das Lehramt an staatlichen Schulen sowie Berufe im öffentlichen Dienst. Auch Studienfächer, welche Voraussetzung für die Ausübung (…) sind, gehören dazu.“ (Quelle, Zugriff 11.3.2025).
Erzieher/in ist ein reglementierter Beruf und hat danach u. a. folgende Zugangsvoraussetzungen:
„Gemäß Infektionsschutzgesetz müssen nach 1970 geborene Beschäftigte in Gemeinschaftseinrichtungen und in medizinischen Einrichtungen nachweisen, gegen Masern geimpft oder immun zu sein.“ (Quelle, Zugriff 10.3.2025)
Schauen wir also ins Infektionsschutzgesetz. In §34 IfSG zum Beispiel findet sich eine Ursache dafür, dass Einrichtungen wie Kindertagesstätten und Schulen sich absichern möchten: Die Liste der Krankheiten, die man nicht haben darf, wenn man dort spielen, lernen oder arbeiten möchte, ist lang. Die Pflichten zur Vermeidung sind streng, die Aufsicht führen die Länder oder deren Gesundheitsämter. Verantwortlich sind die Einrichtungen bzw. deren Leitungen.
Zusammengefasst: Menschen, die als Erzieher arbeiten möchten oder Kinder, die in die Kita gehen wollen, müssen gesund sein.
Und wer stellt Gesundheit fest?
Ein Arzt. In der „guten alten Zeit“ gab es bei den zuständigen Ämtern beschäftigte Ärzte, z. B. Schulärzte, die sich genau darum gekümmert haben.
Heute gibt es viele auch nicht-staatliche Anbieter und Träger, auch für die Ausbildung von Erziehern. Und Kitaleitungen lernen, dass eine Absicherung von Rechts wegen oberstes Ziel ist.
Da man die Verantwortung nicht alleine tragen kann, wird das Thema durchgereicht an die Letzten in der Kette: den (angehenden) Erzieher, das Kind, die Eltern. Sie alle haben Bescheinigungen und Atteste vorzulegen. Diese werden sorgfältig abgeheftet und, sollte man verklagt werden, aus dem Hut, äh, Ordner gezaubert.
Aber was bedeutet das eigentlich für die letzte Person in der Kette, den Arzt? Muss er oder sie den Nachweis wirklich erbringen? Und was genau muss er denn tun, welche Untersuchungen durchführen, welche Krankheiten ausschließen?
Was soll eigentlich bescheinigt werden?
Es gibt noch viele Berufe außer Erzieher/in, die ähnlich reglementiert sind. Und die Berufsanforderungen sind nur ein Beispiel der Formularitis.
Im Alltag treiben der Wust an Vorschriften und die Angst vor Verantwortung seltsame Blüten. Wie zum Beispiel die „Gesundschreibung“: So müssen Eltern Nachweise von Kinderärzten darüber beschaffen, dass der Hautausschlag ihres Kindes jetzt nicht (mehr) ansteckend ist. Dass ihr Kind seit 24 Stunden keinen Durchfall, sich nicht mehr übergeben hat, fieberfrei war. Dass sie das Rezept gegen Kopfläusemittel nicht nur verschrieben bekommen, sondern das Kind auch wirklich mit dem Mittel behandelt haben. Als ob die Kinderärztin all das wissen und prüfen könnte!Praktisch, oft auch theoretisch, muss sie sich auf die Aussagen der Eltern verlassen. Das könnte die Kita auch selbst.
Es kommen auch Patienten mit Formularen, die das Gegenteil von Lappalien sind. Formulare, die „Sie ja eben nur mal schnell abstempeln und unterschreiben müssen“, auf denen aber nicht nur die gesundheitliche Unbedenklichkeit, sondern auch noch die persönliche Eignung für den Beruf, die Ausbildung, die Reise, den Einsatz und mehr bescheinigt werden soll.
Wie im Fall des verzweifelten Arztes: Bitte ausfüllen und abstempeln! Aber Blut abnehmen? Ungern. Und das Kreuzchen bitte da setzen, wo nicht nur Gesundheit, sondern auch persönliche Unbedenklichkeit bescheinigt wird.
Wie, Sie kennen den Patienten gar nicht? Und wissen gar nicht, wie Sie das, was bescheinigt werden soll, feststellen, ausschließen oder was überhaupt damit tun sollen? Tja.
Wer soll das bezahlen?
Bezahlen? Das sah der Patient bei unserem Arzt zumindest nicht ein.
Spätestens bei der Frage, was der Arzt für seinen Aufwand bekommt, verstummen alle plötzlich: die Kita, die Schule, der Ausbildungsbetrieb, die Behörde. Ja, auch die Behörde.
Die Krankenkasse trägt die Kosten schon einmal nicht: Es ist nicht Aufgabe der GKV, Bescheinigungen auf Wunsch oder Verlangen von Arbeitgebern zu bezahlen, genauso wenig wie Bescheinigungen darüber, dass das Kind gesund ist und zur Kita darf.
An wen also richtet sich der Anspruch des Arztes, den er selbstverständlich hat?
Guck mal, wer da kommt
Wer denkt, einmal im Quartal wird er wohl über den kleinen Aufwand hinwegsehen können: Kleinvieh macht hier eine Menge Mist. Dem jungen Arzt ist nämlich deshalb die Hutschnur geplatzt, weil er sich jeden Tag mit solchen Begehren auseinandersetzen muss.
Zu ihm kommen:
- Kinder und Jugendliche für Kita und Schule
- Angehende Auszubildende für den potenziellen Ausbildungsbetrieb
- Auszubildende und Studierende für die jeweiligen Träger
Dazu die, die im Rahmen der (vertrags-)ärztlichen Tätigkeit ohnehin zu erledigen sind:
- Krankenkassen, Medizinischer Dienst, Versorgungsämter
- Sozialgerichte, Berufsgenossenschaften, Arbeitsagenturen…und weitere
Und das, womit Patienten auch ankommen (müssen):
- Reiserücktrittsversicherungen
- Unfallversicherungen
- private Zusatzversicherungen
- Sportvereine oder Fitnessclubs
- und weitere
Und Externe mit besonderen Begehren:
- Anbieter von digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGA), die für (noch nicht mal in der Praxis bekannte Patienten) Formulare faxen: „Bitte mal eben abstempeln“.
- Medizinproduktehersteller, die Verordnungen ihrer Produkte zum Wohle der Gesundheit der Patienten verlangen
Und der ganz normale Formular- und Verordnungswahnsinn von
- Rezepten
- Überweisungen
- Verordnungen von Hauskrankenpflege, Krankentransporten, Heilmitteln und Hilfsmitteln und so weiter
Ist das nicht Wahnsinn?
Im beschriebenen Fall gab es übrigens einen Laborbefund, der die Berufspläne des Patienten durchkreuzen sollte. Schuld daran war natürlich der Arzt, der hat ja das Kreuzchen gesetzt.
Und jetzt?
Ich kann die Formularitis leider nicht heilen. Aber ich habe ein paar Antworten, Taktiken und Strategien zum Umgang mit dem Teil des Problems, das ich Überbürokratisierung und Chaos nenne.
Mitglieder sind herzlich willkommen zu meinem kompakten Mittags-Webinar am 31.07.2025 um 12.30 Uhr.
Und in unserer Praxisinfo „Ärztliche Atteste, Bescheinigungen und Anfragen“ zeigen wir u. a., wie Sie unberechtigt angeforderte Atteste von Kassen & Co. ablehnen können.
Die hier dargestellten Fälle sind aus der persönlichen Praxisberatung des Virchowbundes, gesammelt und aufgeschrieben von Margaret Plückhahn, unserer Praxis- und Niederlassungsberaterin.
„In meiner täglichen Beratungspraxis begegnen mir zuweilen Fälle, die auch mich nach über 30 Jahren Tätigkeit im Gesundheitswesen nur den Kopf schütteln lassen. Fälle, die die teils tragische Absurdität unseres Gesundheitssystems offenlegen. Fälle, die zum verzweifelten Seufzen, Weinen oder Lachen bringen – und die es verdient haben, dass sie öffentlich gemacht werden.“
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